dimanche 7 juin 2015

Gott Lassen



Wie können wir heute, im 21. Jahrhundert, Gottesdienste feiern, so dass alle Mitfeiernden angesprochen sind? Diese Frage stellte sich eine Gruppe von Frauen und Männern, die für die Gestaltung und Durchführung von Gottesdiensten verantwortlich sind. Ratlosigkeit machte sich breit. Von den verschiedenen Erfahrungen, die geäussert wurden, gab mir am meisten die eines Pfarrers zu denken.
Zu Beginn des Gottesdienstes – so berichtete er – singen wir nach der gegenseitigen Begrüssung ein Lob- und Danklied. Dann kommt das Grosse Loslassen über uns. Wir werden doch von so vielem gefangen gehalten oder bedrängt: von Sorgen, häuslichen und beruflichen Verpflichtungen, von Eitelkeiten, von Enttäuschungen, von  Erwartungen, von Beleidigungen, von Kränkungen – ja, es ist unmöglich alles aufzählen, was uns vom Eigentlichen und einzig Wichtigen ablenkt und abhält. Aufzählungen wirken langweilig und oberflächlich, ganz abgesehen davon, dass man auch nicht alles auf einmal loslassen kann. So nehmen wir jeweils nur ein Problemfeld heraus. Zum Beispiel dieses: Jeden Tag werden wir enttäuscht: von unserer Nachbarin, von unserem Partner, von uns selbst – weil wir mit unserer Arbeit nicht fertig werden, weil wir zu ungeduldig sind und und und. Um all diese Enttäuschungen loslassen zu können, brauchen wir Zeit, viel Zeit und viel Ruhe. Diese wohltuende Stille markiert den Beginn des Gottesdienstes. Wir lassen diese Enttäuschungen nicht nur, wir über-lassen sie Gott. Dort sind sie gut aufgehoben.
Im Grunde genommen können wir alles lassen; alles, was uns ablenkt oder gefangenhält oder quält. So werden wir leer und frei. In der Liturgie – so der Pfarrer – folgt dann dieser stillen Zeit des Lassens ein Gebet.
Die Idee finde ich gut. Wir haben so vieles zu lassen, von so vielem uns leer zu machen. Vielleicht können wir so Gott Raum geben.
Die Frage, die sich mir im Nachhinein stellt, ist die: Sollten wir nicht einmal versuchen, auch Gott loszulassen? Ihn zu lassen, wie er ist, ihn frei zu lassen, uns von ihm kein Bild zu machen, ihn nicht vor den Karren unserer Interessen zu spannen, ihn nicht zu vereinnahmen?
Der Mystiker Meister Eckhart (1260-1328) fordert dazu auf,
Gott um Gottes Willen zu lassen.
In diesem Sinn nennt Gott dem Mose am brennenden Dornbusch seinen Namen:
Ich bin, der ich bin,
das heisst: ‚Ich bin für euch da, ich gehe mit euch, ich bin bei euch. Bitte, lasst mich der sein, der ich bin!’
Meister Eckhard fügt seiner Forderung Gott um Gottes Willen zu lassen noch hinzu:
damit er mir bleibe.
Nur wenn wir Gott lassen, kann er wirklich unser Gott sein.
Hermann-Josef Venetz



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