samedi 30 mai 2015

Die Bibel – Tummelplatz des Betens


 Seit mehr als 40 Jahren beschäftige ich mich berufsmässig mit der Bibel. Wir finden darin eine schier unüberschaubare Vielfalt an Möglichkeiten, wie wir von Gott oder über Gott oder mit Gott reden könnten. Wenn ich die Bibel öffne, kann es vorkommen, dass gerade ein Prophet im Auftrag Gottes eine Rede hält. Ab und zu werden Lieder gesungen. Oft sind es einfach Erzählungen, die auf den ersten Blick mit Gott gar nichts zu tun haben. Sie berichten von Menschen, die ähnlich wie wir suchend und zweifelnd und hoffend unterwegs sind. Dann stosse ich auf Weisheitssprüche, die uralte menschliche Erfahrungen mit Gott und dem eigenen Leben zusammenbringen. Es gibt auch richtige Gebete. Sie sind wie Antworten auf bestimmte Anrufe. Das können durchaus Anrufe Gottes sein. Es können aber auch Anrufe des so genannten Schicksals sein, wie sie durch Krankheiten, durch Verfolgungen, durch Ungerechtigkeiten auf Menschen zukommen, Anrufe auch durch wundersame Erfahrungen wie Liebe und Verzeihen und Solidarität. Glaubende und Betende können in allem den Anruf Gottes hören.
Die ganze Bibel, das Alte wie das Neue Testament, ist immer beides: Anruf und Antwort. Wenn in der Bibel Gott zu Sprache kommt, ist das keineswegs eine Ein-Weg-Kommunikation und schon gar nicht eintönig. Er ist er nicht einfach Befehlshaber und Gesetzgeber. Viel öfter ist er der, der bittet und liebevoll zuredet, der ermuntert und ermutigt, der befreit und einlädt, der fragt und anklagt und droht – wie soll denn die Bibel anders von Gott reden als auf ‚menschliche Art’, und ‚in Bildern und Gleichnissen’?
Eben so oft wenn nicht öfters kommen in der Bibel Menschen zu Wort; sie ant-worten auf die Bitten und Anklagen und Einladungen und Drohungen Gottes. Und diese Antworten könnten vielfältiger nicht sein: jubeln und loben, preisen und danken, klagen und schimpfen, fluchen und lachen, fragen und weinen und schweigen...
Tatsächlich: Wenn wir die Bibel öffnen, geraten wir in einen permanenten Dialog zwischen Gott und den Menschen, und sobald wir in der Bibel zu lesen beginnen, treten wir in diesen Dialog ein, in den Dialog mit Gott, der uns anruft, in Frage stellt, verständnisvoll zunickt, schweigt, schmollt, lächelt... Dabei sind wir nicht allein; mit uns und bei uns sind unsere Glaubensmütter und Glaubensväter, mit denen zusammen wir auf Gott hören und ihm zu antworten versuchen: der Vater Abraham, die Mutter Sara, der Fürbitter Mose, die Pauken schlagende Mirjam, der tanzende David, der drohende Jeremia, der klagenden Ijob, die jubelnde Maria, die salbende Sünderin...
Beten mit der Bibel’ heisst: dabei sein, hören, mitreden, mitspielen…
Hermann-Josef Venetz

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