samedi 22 septembre 2012

Sie laufen davon


 Herbst 1989. In der DDR gingen die Menschen zu Tausenden auf die Strasse. Die Fluchtwelle war bereits im vollen Gange.
In diesen Tagen kamen in unseren Radio- und Fernsehsendungen, verschiedene Polit- und Kulturgrössen zu Wort. Unter ihnen Stefan Heym, der bekannte Schriftsteller. Ihm wurde die Frage gestellt, warum die Leute, besonders die Jungen, die DDR verlassen. Diese seien doch während Jahren im Geist des Sozialismus erzogen worden. Schon mit der Muttermilch sei ihnen eingeflösst worden, dass es gar nichts Besseres und nichts Wahreres gebe als die DDR. Die Antwort Heyms gab mir zu denken. Sinngemäss sagte er: Der Grund für das Verlassen des Landes liege im Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit.
In der Tat: Demokratie klingt wie ein Hohn, wenn weder in der Gemeinde noch am Arbeitsplatz auch nur ein Hauch von Mitbestimmung gefragt ist. Volk klingt wie eine Beleidigung, wenn man bedenkt, dass dieses Volk sich ja nirgends artikulieren kann ausser in erzwungenen Kundgebungen und in manipulierten Wahlen. Auf die Dauer kann kein Mensch dieses grosse Gefälle ertragen; entweder er erkrankt, wird depressiv, er steigt auf die Barrikaden oder verlässt das Land.
Zu denken gaben mir diese Äusserungen von Stefan Heym, weil gewisse Parallelen auf der Hand liegen. Immer mehr Menschen verlassen die Kirche. Sie tun das unauffällig. Sie sind durchaus bereit, weiterhin Kirchensteuern zu bezahlen und gewisse Dienstleistungen wie Taufe, Trauung und Beerdigung in Anspruch zu nehmen. Aber darüber hinaus reicht ihr Engagement nicht.
Die Gründe für diese »stille Emigration« sind nicht leicht zu benennen. Zu leicht machen es sich gewisse kirchliche Kreise, wenn sie die Schuld daran den Leuten, dem Materialismus oder der Säkularisierung in die Schuhe schieben. Vielleicht sollte man sich auch bei uns fragen, wie es denn mit der Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit steht und ob Wortreichtum wirklich genügt, um diese Kluft zu überwinden. Auch in der Kirche spricht man gerne vom Volk, vom Volk Gottes. Wenn man aber nach den Rechten dieses Volkes fragt, ist man doch ziemlich perplex: Rechte im eigentlichen Sinn gibt es nur für gewisse Schichten und Stände.

Von Gemeinschaft ist viel die Rede und von Mündigkeit, ja selbst Räte werden eingesetzt, und es gibt dafür sogar Wahlen. Man lässt die Leute sogar diskutieren. Aber Entscheidungsbefugnis haben sie keine; sie können sich höchstens dazu entscheiden, dem Vorgesetzten einen Rat zu erteilen.

Auch Gleichberechtigung wird gross geschrieben, und man spricht gerne von Brüdern und Schwestern und von geschwisterlicher Kirche. Wenn es dann aber darauf ankommt, sind es doch nur die Brüder, die das Sagen haben, während die Schwestern dazu da sind, die Kirchen zu füllen, die Säle mit Blumen zu schmücken, den Orgeldienst zu versehen und – wenn es hoch kommt – die von den Brüdern bestimmten Texte vorzutragen.
Von der damaligen Wende in den Oststaaten wäre immerhin dieses zu lernen: All die Worthülsen mit ihren Idealen – mögen wir sie noch so fleissig wiederholen und lautstark predigen: solange diese Ideale nicht »greifen«, nicht irgendwo einen Berührungspunkt haben mit der konkreten Wirklichkeit, wird das ganze Bemühen nicht nur umsonst, sondern gar kontraproduktiv sein. Die Leute – die Arbeiter, die Jugendlichen, die Frauen – werden weiterhin in Scharen die Kirche verlassen. Ob es laut oder leise geschieht, tut nicht viel zur Sache.

Hermann-Josef Venetz

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